Chancen und Risiken bei der ERP-Neueinführung in der Prozessindustrie
Häufig ist die Einführung einer neuen ERP-Lösung wirtschaftlicher als die Wartung und Weiterentwicklung eines Altsystems. Vor allem auf bestimmte Branchen zugeschnittene Lösungen können den geschäftlichen Mehrwert steigern – vorausgesetzt die ERP-Einführung läuft nicht aus dem Ruder. Was sind die größten Risiken und die wichtigsten Erfolgsfaktoren vor und während der Implementierung?
ERP-Systeme (ERP, Enterprise Resource Planning) blicken auf eine lange Geschichte zurück. Sie existieren nicht erst, seit Gartner 1990 den Begriff „ERP“ prägte, sondern reichen bis in die 1960er Jahre zurück, als die ersten MRP-Systeme (MRP, Manufacturing Resource Planning“) Einzug hielten. Auch heute finden sich ältere Produktionsplanungssysteme in vielen Unternehmen als Teil einer heterogenen IT-Landschaft wieder. Sie sind typischerweise von zahlreichen, manuell erstellten Workarounds geprägt, die unflexibel sind, aufwändig in der Bedienung und schwierig zu warten. Und es kommt häufig vor, dass der ursprüngliche ERP-Anbieter seinen Support und die Weiterentwicklung seines Produkts mittlerweile eingestellt hat. In diesen Fällen ist die bestehende Software schlicht am Ende ihres Lebenszyklus angekommen. Dies ist zum Beispiel bei Lösungen auf AS/400-Basis häufig der Fall.
Oft sind es auch neue gesetzliche Anforderungen, die das Altsystem nicht mehr abbilden kann. Nicht zuletzt bieten neuere, branchenspezifische ERP-Lösungen Standardfunktionen, die in generischen Systemen einfach nicht oder nur in Bruchstücken vorhanden sind – also aufwändig hinzuprogrammiert werden müssten. Ganz zu schweigen von dem damit verbundenen Wartungsaufwand.
Ein weiterer Grund für einen ERP-Wechsel kann auch die strategische Neuausrichtung eines Unternehmens sein, etwa bei einer Firmenübernahme oder wenn eine Unternehmensgruppe ihre Systemlandschaft vereinheitlichen möchte. Ziel ist es in all diesen Fällen, mithilfe einer neuen Lösung die größten ERP-Herausforderungen zu lösen oder zu minimieren. Laut einer Studie der Trovarit AG von 2022 sind dies vor allem die Migration/Aufbereitung von Daten, die zu zahlreichen Systemanpassungen, fehlende Ressourcen im Projektteam, knappe Zeitpläne und die Integration mit anderen Systemen über Schnittstellen.
Gute Vorbereitung ist (fast) alles
Ein ERP-Projekt fängt nicht erst mit der Implementierung an, sondern mit einer möglichst systematischen Vorbereitung – als Fundament für die danach folgende Einführung. Was sind hier die wichtigsten und häufigsten Stolpersteine und wie lassen sich diese entschärfen?
Risiko 1:
Mangelnde Zielsetzung
Eine ERP-Einführung sollte immer in der Geschäftsführung anfangen, da es zunächst um die Ziele geht, die ein Unternehmen mit dem neuen ERP verfolgt. Sehr oft ist diese Zielsetzung unzureichend oder auch gar nicht formuliert. Doch wenn die Ziele nicht klar sind, ist auch keine wirkliche Steuerung des Projekts möglich. Zumal dann immer wieder neue Änderungen während des laufenden Projekts Kosten und Zeitaufwände nach oben treiben. Auch eine Erfolgsanalyse des Projekts ist kaum möglich, da es lediglich „auf Sicht“ fährt.
Unternehmensziele definieren und auf Abteilungs- sowie funktionale Ziele herunterbrechen
Ziele „SMART“ definieren (SMART: spezifisch, messbar, angemessen, realistisch, terminierbar)
Sehr wichtig: Definieren, was nicht zu den Zielen eines Projekts gehört
Risiko 2:
Anforderungsanalyse
Was erwarte ich funktional von der neuen Software im Detail? Welche Prozesse sollen damit abgebildet werden? Wie lassen sich diese Anforderungen verschriftlichen und dokumentieren? Oft ist die Anforderungsanalyse zu oberflächlich und/oder lückenhaft. Das Lastenheft ist nicht belastbar. Dieser Mangel kann sogar dazu führen, dass der falsche ERP-Anbieter gewählt wird, da der neue Dienstleister keine aussagekräftige Machbarkeitsanalyse durchführen kann. Auch eine belastbare Kostenkalkulation ist nicht möglich, weil in der Regel während des Projekts immer neue Anforderungen hinzukommen oder geändert werden müssen. Das Ergebnis sind erhöhte Kosten- und Zeitaufwände.
Geschäftsprozesse detailliert analysieren und dokumentieren
Funktionale Anforderungen darauf basierend analysieren und dokumentieren
Anforderungen nach KANN- und MUSS-Kriterien klassifizieren
Risiko 3:
Unprofessionelles Projektmanagement
Einsatz eines professionellen Projektleiters mit Erfahrung im Projektmanagement und bestenfalls auch mit Software-Einführungen
Fokus des Projektleiters liegt auf der ERP-Einführung, die nicht nur ein Projekt von vielen für ihn ist
Projektleiter sollte keine Führungskraft sein, da Projektplanung eine fachliche und planerische Aufgabe ist
Risiko 4:
Fehlende Risikoanalyse
Risiken haben die Eigenschaft, dass sie umso wahrscheinlicher eintreten, wenn man sich nicht mit ihnen beschäftigt. Dies können budgetäre, personelle oder fachliche Risiken sein. Eine fehlende Risikoanalyse bei der Vorbereitung eines ERP-Projekts führt außerdem dazu, dass notwendige Gegenmaßnahmen beim Eintreten eines Risikos aus der Not geboren sind, anstatt über klare Vorgaben des Risikomanagements zu verfügen. Letztlich erhöhen sich auch dadurch die Projektkosten.
Mögliche Risiken frühzeitig identifizieren, dokumentieren und bewerten
Frühzeitig Maßnahmen definieren, die Risiken und damit Kosten vermeiden bzw. im Eintrittsfall minimieren
Risiko 5:
Falsche Projektbedeutung
Wenn sich die Geschäftsleitung anfangs nicht intensiv genug mit der anstehenden ERP-Einführung beschäftigt, führt dies oft zu einer falschen Projektbedeutung. In der Regel wird dem Vorhaben eine zu geringe Bedeutung zugemessen, obwohl hier meistens die Weichen für die Zukunft eines wesentlichen Teils der IT-Infrastruktur gestellt werden. Dies wiederum führt zu suboptimalen Rahmenbedingungen – sei es, dass nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen oder kein dedizierter Projektleiter existiert.
ERP-Projekt so hoch wie nötig und so niedrig wie möglich priorisieren
Auf dem Weg zum Go-Live
Sobald der Startschuss für die eigentliche ERP-Implementierung gefallen ist, müssen die Abläufe nicht nur beim Anwenderunternehmen möglichst reibungslos ablaufen, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Beratern des Lösungsanbieters. Selbst wenn die Vorbereitung systematisch und umfangreich erfolgte, lauern bei der Implementierung weitere Fallstricke, die ein Unternehmen adressieren muss.
Fallstrick 1:
Unrealistischen Zeitpläne
ERP-Einführungen haben oft mit unrealistischen Zeitplänen zu kämpfen, da sie mit Blick auf den Go-Live zu knapp kalkuliert sind und keine ausreichenden Zeitpuffer existieren. Dies führt wiederum dazu, dass die Verantwortlichen versuchen, in den wichtigen Schlussphasen – Test und Go-Live – Zeit einzusparen. Das Ergebnis sind fehlerhafte Anwendungen, Bedienprobleme und eine dadurch geringe Nutzerakzeptanz. Außerdem führen nicht ausreichende Tests oft zu Datenchaos.
Projektplan realistisch erstellen: Das Anwenderunternehmen muss zwei- bis dreimal so viel Zeit investieren wie der Software-Anbieter
Ausreichend Pufferzeiten einplanen
Das jeweilige Tages- und saisonale Geschäft mit seinen Peaks und ruhigeren Zeiten berücksichtigen
Fallstrick 2:
Einbeziehung der Key User
Wer das neue ERP-System maßgeblich nutzen wird, sollte auch bei seiner Einführung beteiligt sein. Eine systematische, kontinuierliche und frühzeitige Einbeziehung der Key User ist deshalb Pflicht. Auch der Betriebsrat sollte früh konsultiert werden, vor allem, wenn sich mit dem neuen ERP Arbeitsabläufe ändern. Ohne ausreichende Einbindung der Key User und ihres Praxis-Know-hows droht eine Fehlentwicklung des Systems und dadurch mangelnde Akzeptanz seitens der Anwender. Und kommt der Betriebsrat erst gegen Ende mit ins Projekt, besteht die Gefahr, dass dieser auf Änderungen besteht und seine Freigabe verweigert.
Aktive Mitgestaltung durch und Verantwortungsübertragung an Key User
Regelmäßige Statusmeetings und Infoveranstaltungen mit den Key Usern
Frühzeitig den Betriebsrat einbeziehen
Fallstrick 3:
Fehlende Ressourcen
Erhält ein ERP-Projekt nicht die notwendige Bedeutung (siehe oben), laufen auch ein dedizierter Projektleiter und die Einbindung von Key Usern oft ins Leere, weil notwendige Ressourcen fehlen. Was nützt der beste Projektleiter, wenn er kaum Zeit für die ERP-Einführung hat und wenn die Key User voll in ihrem Kerngeschäft gebunden sind?
Adäquate Priorisierung des Projekts inkl. Bereitstellung ausreichender Ressourcen
Key User werden temporär für das Projekt freigestellt
Fallstrick 4:
Unverbindliche Terminpläne
Nicht selten plätschert ein ERP-Projekt vor sich hin, so dass sich die Einführung immer mehr verzögert. Grund sind oft zu unverbindliche Terminpläne, die für einzelne Aufgaben keine klaren Zeiten und Meilensteine festlegen. So ist vorprogrammiert, dass andere Aufgaben im Unternehmen immer wieder Vorfahrt erhalten, während das ERP-Projekt wegen der ständigen Verzögerungen immer teurer und zeitaufwändiger wird.
Projektplan für alle Aufgaben in allen Projektphasen erstellen und Meilensteine festlegen
Noch wichtiger: Jede (Unter-)Aufgabe ist mit einem festen Liefertermin versehen – sowohl für den Auftraggeber als auch den Dienstleister
Fallstrick 5:
100-Prozent-Lösung
Das Pareto-Prinzip besagt, dass 20 Prozent des Aufwands zu 80 Prozent des Ergebnisses führt, während für die Erreichung der verbleibenden 20 Prozent wiederum 80 Prozent des Aufwands nötig sind. Dies trifft auch auf ERP-Projekte zu. Es macht deshalb wenig Sinn an einer 100-Prozent-Lösung festzuhalten. Dieser Ansatz führt eher dazu, dass das Projekt nur schwer ins Ziel kommt – was wiederum Kosten sowie Zeitaufwände in die Höhe treibt.
In der ersten Implementierungsphase einer ERP-Einführung zunächst „nur“ 80 Prozent der angestrebten Funktionen realisieren
Weitere Funktionen erst nach dem Go-Live priorisieren und schrittweise einführen
Fallstrick 6:
Fehlendes Change Management
Nachträgliche Änderungen an Umfang und Struktur von Funktionen ist per se nichts Schlechtes, sie müssen nur systematisch und kontinuierlich gemanagt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass ein fehlendes Change Management zu einem stetig wachsenden Projektumfang führt und sich die Projektdauer immer mehr in die Länge zieht. Zudem besteht die Gefahr, dass die sogenannten „Change Requests“ nicht ausreichend dokumentiert und somit auch nicht revisionssicher sind.
Etablieren eines Change Managements, dass neue Anforderungen dokumentiert, bewertet, priorisiert und für die Umsetzung einplant
Fallstrick 7:
Datenmigration
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für ERP-Einführungen und immer wieder unterschätzt ist die Datenmigration. Denn praktisch nie legen Unternehmen die notwendigen Daten komplett neu an, sondern übernehmen die große Menge bereits bestehender Altdaten aus dem/den Vorgängersystem/en. Obwohl diese Migration ein komplexes Unterfangen darstellt, erfolgt sie oft sehr spät im Projekt und verzögert dadurch den Projektablauf und es leidet nicht zuletzt – die Qualität der Daten.
Datenmigrationsplan erstellen: Welche Daten werden wie übernommen?
Alte/inaktive Daten schon im Altsystem bereinigen
Nur relevante Informationen ins neue System übernehmen
Daten systematisch testen
Fallstrick 8:
Unzureichende Tests und Abnahmen
Da der Test des neuen ERP erst in den späten Einführungsphasen erfolgt, findet er oft in einem Umfeld statt, das von Zeitknappheit geprägt ist. Das Ergebnis sind unzureichende Tests und Abnahmen, was wiederum zu einem instabilen System mit Fehlern führt und damit zu einer mangelnden Akzeptanz bei den Anwendern im Unternehmen. Ein dementsprechend holpriger Start des ERP macht viele Nachbesserungen nötig.
Genug Zeit und Ressourcen für Tests einplanen
Etablieren eines Testmanagements
Testpläne für Funktions-, Integrations- und Regressionstests erstellen
Testaufwände vorab kalkulieren
Erfolgsfaktor Branchen-ERP
So wichtig ein gut organisiertes ERP-Einführungsprojekt ist, über den Gesamterfolg entscheidet am Ende vor allem die gewählte Lösung selbst. Der Erfolg beruht nämlich wesentlich darauf, ob das neue System die branchenspezifischen Anforderungen eines Unternehmens bereits in seinem Standard abdeckt. Konkret: Berücksichtigt die Lösung Gesetzesauflagen, Branchenregularien, branchenspezifische Zertifizierungsanforderungen und auch länderspezifische Regularien? Wieviel „Branchen-DNA“ bietet die Software? Und können die Spezialisten des Anbieters branchenspezifisch beraten? Sind sie mit den Best-Practice-Ansätzen im spezifischen Marktumfeld ihrer Kunden vertraut?
Für praktisch jede Industriebranche existieren mittlerweile maßgeschneiderte ERP-Lösungen und die Nachfrage nach ihnen ist hoch und steigt weiter. Der Grund ist einfach: Wenn Branchenspezifika erst aufwändig und kostspielig erstellt werden müssen, sind höhere Implementierungs- und Wartungskosten vorprogrammiert. Ein branchenorientiertes ERP-System hingegen bietet schon im Standard Best-Practice-Ansätze, die hundertfach erprobt sind und deshalb ohne große Risiken einfach einsetzbar sind.
In der Regel decken solche Lösungen auch Nischenfunktionen ab, was wiederum die Wartungskosten klein hält, da sich Anforderungen in Nischenmärkten immer wieder verändern. Sieht ein branchenorientiertes ERP solche Spezifika bereits im Standard vor, kann sich das Anwenderunternehmen beruhigt zurücklehnen. Denn der Anbieter entwickelt auch die Spezialfunktionen fortlaufend weiter und passt sie an neue Anforderungen an. Dies verbessert zudem die Skalierbarkeit des ERP. Die Lösung kann einfacher mitwachsen – sei es mit Blick auf das Unternehmenswachstum, sei es, wenn es um sich ändernde Branchenanforderungen geht.